Wer kennt sie nicht, die Stiftsbibliothek in St. Gallen? Sie ist eine der ältesten und historisch reichsten Bibliotheken der Welt, geniesst internationales Ansehen und gehört seit 1983 zum UNESCO Weltkulturerbe – ein kunsthistorischer Schatz, dessen Vielfalt es zu entdecken gilt. Die Stiftsbibliothek St. Gallen beherbergt wertvolle Bücher der abendländischen Kulturgeschichte seit der Spätantike, darunter beispielsweise den St. Galler Klosterplan. Im Jahr 612 n.Chr. beginnt die Geschichte mit einer Einsiedlerzelle des irischen Mönchs Gallus. Im Jahr 719 folgt am Ort des Gallus-Grabes die Aufnahme eines regulären Klosterlebens. In über tausendjähriger Zeitspanne erlebt das Kloster einen unglaublichen Wandel, der sogar über die Aufhebung der damaligen Benediktinerabtei im Jahr 1805 hinausgeht. Entsprechend darf dieses Jahr der 1410-te Geburtstag gefeiert werden. Heute möchte ich dir die Geschichte des Klosters sowie der Stiftsbibliothek in St. Gallen näher vorstellen.

Die Geschichte des Klosters und der Stiftsbibliothek St. Gallen

Die Gründergestalten: Gallus und Otmar

Der irische Missionar Gallus, der von Irland ins Bodenseegebiet gelangt, gründet nach einer Erkrankung im Jahr 612 eine erste Eremitensiedlung im Hochtal der Steinach. In der Wildnis südlich des Bodensees stürzt er bei der Suche nach einem geeigneten Ort über einen Dornstrauch, was er als Zeichen Gottes ansieht, um dort die Siedlung zu errichten. Die Legende besagt, dass er in der Wildnis mit einem Bären freundschaftlich verbunden ist – der Bär sammelt Holz für ihn und Gallus gibt dem Bären dafür Brot. Deshalb werden der Bär und das Brot die Attribute des Heiligen, aber auch im Wappen der Stadt St. Gallen ist der Bär zu sehen. Gallus stirbt im Jahr 645. Seine Grabstätte befindet sich heute in der Gallus-Krypta, welche in den Jahren 837-839 errichtet wird und sich unterhalb des Hochaltars der Kathedrale befindet. Jedoch ist es der alemannische Priester Otmar, der 719 aus der losen Siedlung eine Klostergemeinschaft bildet und die erste Klosterkirche errichtet.

Dank einer gezielten Vergrösserung der Gemeinschaft und der damit verbundenen regen Bautätigkeit, wird das Kloster rasch bekannt. Urkunden aus dem Staatsarchiv belegen ferner Schenkungen von Land und Rechten, wodurch einschliesslich der dort Ansässigen bereits in der ersten Klosterzeit eine ausgedehnte Grundherrschaft entsteht. Die Benediktinermönche sind fleissige Schreiber und Sammler von Handschriften und so entsteht im Laufe der Zeit die heute so wertvolle Bibliothek, welche nicht nur mehreren Bränden, sondern auch den Wirren der Reformationszeit zu trotzen vermag. Die Stiftsbibliothek gilt als einer der schönsten Bibliotheksräume weltweit und gehört zum UNESCO Weltkulturerbe. Sie wird 1553 errichtet. Im Jahr 1767 entsteht der heutige barocke Saal. Heute ist die Bibliothek Eigentum des katholischen Konfessionsteils des Kantons St. Gallen und definitiv einen Besuch wert. Otmar wird übrigens bereits 764 heiliggesprochen, also nur 5 Jahre nach seinem Tod. Sein Attribut ist ein Weinfässchen, welches der Legende nach nie leer wurde.

Baugeschichte und Bedeutung der Abtei und der Kathedrale St. Gallen

Beim Betreten der heutigen Kathedrale von St. Gallen kann der Besucher nur staunen. Man wird ganz still und ist beinahe überwältigt von solch herausragender barocker Architektur. Die barocke Klosteranlage bildet jedoch «nur» einen glanzvollen Abschluss der über tausendjährigen Klosterkultur.

Abt Gozbert läutet etwa hundert Jahre nach Otmar das «goldene Zeitalter» der Abtei ein. Wir befinden uns nun im 9. Jahrhundert. Vom Abt in Reichenau erhält er 820 ein Konzept für ein eigenständiges Kloster – den heute berühmten Klosterplan. Auf freundliche Einladung der Bibliothek hin war es mir sogar erlaubt einen Blick darauf zu werfen. Gozbert errichtet das karolingische Münster und das Kloster erlebt eine wirtschaftliche und kulturelle Blütezeit. Diverse Privilegien gewähren nicht nur die Reichsfreiheit, sondern auch die Unabhängigkeit vom Bischof von Konstanz (man kann erahnen, dass dies immer wieder zu Konflikten führte). 926 endet dieses goldene Zeitalter des Klosters ziemlich abrupt aufgrund des Einfalls der Ungarn sowie einem verherenden Brand im Jahr 937. Dank der Inklusin Wiborada können die Schätze aus der Bibliothek gerettet werden. Das «silberne Zeitalter» der Abtei folgt im 10. und 11. Jahrhundert, denn das Kloster erlangt in dieser Zeit seinen höchsten Stand an Besitztum und Macht und dessen Schule sowie ihre Schüler sind europaweit bekannt. Der St. Galler Konvent gilt in dieser Zeit als mustergültig und entsendet Mönche zum Zweck von Neugründungen (beispielsweise Einsiedeln).

Im späteren Verlauf des Mittelalters sinkt sowohl die politische als auch die künstlerische Bedeutung des Klosters (Inventurstreit im Zeitraum von 1075 bis 1122), was sich auch auf die wirtschaftliche Kraft der Stadt St. Gallen auswirkt. Die Zahl der Mönche verringert sich und politische Zwiste führen zu Verlust von Land und Rechten. Im Spätmittelalter löst sich die aufgestiegene Handelsstadt St. Gallen von der äbtischen Herrschaft. Frischen Wind bringt erst der Abt Ulrich Rösch im 15. Jahrhundert, der das monastische Leben wieder herstellt und einen modernen Territorialstaat gründet. In den Wirren der Reformation werden die Stadt und das Kloster St. Gallen konfessionell getrennt und eine Zeit lang ist die Abtei verwaist. Das 16. und 17. Jahrhundert bringen wieder einen Aufschwung und das geistliche Leben wird durch Abt Bernhard Müller ein weiteres Mal wiederhergestellt – es handelt sich um die heute bestehende Benediktinerkongregation. Eine mustergültige Seelensorge wird von frommen Äbten betrieben und das Kloster erlebte seine nächste Blütezeit. Innere und äussere Renovationen und Neubauten werden in Angriff genommen. 1805 wird der Stift jedoch durch den neu gegründeten Kanton St. Gallen aufgehoben und die Klosterkirche gehört von nun an zur kantonalen Hauptkirche. Seit 1824 ist sie Kathedrale des gleichnamigen Bistums.

Die Barocke Kathedrale: Angelpunkt zwischen Rokoko und Klassizismus

Eine Blütezeit steht immer auch für Entwicklung und Erneuerung, weshalb es nicht verwundert, dass der Konvent sich 1760 für eine Fortsetzung des Kirchenbaus ausspricht. Dem Bildhauer und Maler Johann Wenzinger wird die gesamte künstlerische Ausstattung übertragen. So wird alsbald der gotische Chor ersetzt. Josef Wannenmacher und die Gebrüder Gigl arbeiten ab 1764 am Innern des Chores – genauer gesagt an der Deckenmalerei und der Stuckzier. Diese Arbeit zieht sich über mehrere Jahre hin und so wandelt sich der Stil vom Barock hin zum Rokoko. Die kupfergrünen, überschäumenden Rocaillen der Gebrüder Gigl stechen uns Besucher als erstes ins Auge. Ein Jahrzehnt zuvor wird die ausladende Rotunde und das daran anschliessende Langhaus von Peter Thumb fertig gestellt. Die Doppelturmfassade wird 1766 vollendet und gehört zu den letzten Bauverwirklichungen des barocken Themas. Unvollendet tritt die Stiftskirche in das Chaos der Revolutionsjahre ein. Nach der Aufhebung des Klosters und in Verbindung mit der neuen Funktion als Hauptkirche von St. Gallen werden abermals Baumassnahmen beschlossen. Der repräsentative Hochalter wird 1808 von Josef Moosbrugger erstellt. Im Westchor werden die Altäre durch grosse Orgelemporen ersetzt. Das Chorgewölbe wird ab 1819 mit neuen Fresken überstrichen und ab 1866 erhält der Kirchenraum ein neues Farbgewand, welches der damaligen Zeit entspricht. Bei einer späteren umfassenden Restaurierung (in den Jahren 1961-67) wird die ursprüngliche Farbigkeit von 1820 jedoch wiederhergestellt und auch die ursprüngliche Deckenmalerei von Wannenmacher wieder freigelegt. In dieser Gestalt ist die Kathedrale heute ein nationales Baudenkmal und steht unter Bundesschutz. Der Stiftsbezirk und die Klosteranlage bilden den Kern der Altstadt von St. Gallen – alle Wege führen quasi an ihr vorbei und sie repräsentiert ein geistliches und weltliches Zentrum.

Exkurs: Der St. Galler Klosterplan

Der St. Galler Klosterplan ist ein einzigartiges Dokument, welches den Grundriss einer Klosteranlage zeigt. Entstanden im Jahr 825, verfasst von Abt Heito aus Reichenau mit roter Tinte auf Pergament, handelt es sich um den einzigen erhaltenen Bauplan eines Klosters aus karolingischer Zeit. Der Plan diente als Modell und als Hilfe, um Abt Gozbert bei seinem Bauvorhaben zu unterstützen. Die in Versen gehaltenen Beischriften erklären die Zeichnung. Der Klosterplan wurde jedoch nie 1:1 umgesetzt und bleibt somit ein Konzept.

Das Kirchengeläute

Das Geläute der Klosterkirche ertönt seit 1772 unverändert und gehört somit zu den bedeutendsten historischen Geläuten weltweit 😉 Besonders beindruckt hat mich persönlich jedoch die Kanzel. Am Korb sehen wir die vier Evangelisten; auf dem Schalldeckel die Statue des «guten Hirten» umgeben von Putten. Entstanden im Spätbarock, weist die Kanzel bereits klassizistische Züge auf.

Ausstellung und Besuch

Bis zum 6. März 2022 können wir die Ausstellung «Tiere – Fremde und Freunde» im Barocksaal der Stiftsbibliothek besuchen.

Der Katholische Konfessionsteil des Kantons St. Gallen führt die Bibliothek heute als wissenschaftliche Institution weiter. Bücher vor 1900 können im Lesesaal eingesehen werden, Bücher nach 1900 stehen zur Ausleihe zur Verfügung. Einige Bücher wurden digitalisiert. Wertvolle Handschriften wie beispielsweise das Evangelium Longum oder die «Grosse Hartmut Bibel» befinden sich im Gewölbekeller. Weitere Klosterschätze werden in den Ausstellungen gezeigt. Ferner finden beinahe täglich öffentliche Führungen statt.

Hier gibt es einen Sneak Peek in die neue Ausstellung:

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Adresse: Stiftsbibliothek St. Gallen, Klosterhof 6D, 9000 St. Gallen
Öffnungszeiten: Mo – So: 10Uhr bis 17Uhr
Eintritt: CHF 18

Aufgrund der aktuellen Lage können die Öffnungszeiten abweichen. Bitte informiere dich über die Webseite.

Siehe dir auch meinen Beitrag zum Schloss Ambras an.

Bildquellen & -rechte © Stiftsbibliothek/Stiftsbezirk St. Gallen

 

Literatur

  • Josef Grünefelder: Kathedrale St. Gallen. Die ehemalige Benediktiner-Stiftskirche St. Gallus und Otmar. Schweizerische Kunstführer GSK, 2009.
  • Weitere Informationen: Führung durch die Stiftsbibliothek St. Gallen (4.12.21) sowie auf den Webseiten www.stiftsbezirk.ch und www.dom.kathsg.ch